Bugwelle

Bugwelle – Blende: f/4,5

Vor zwei Tagen haben wir im Hafen Rotterdam abgelegt. Kurz vor London kommt der Lotse an Bord und wieder werden im Hafen unzählige Container gelöscht, d.h. abgeladen.
Wir nehmen Kurs auf Bremerhaven.
Es ist kurz nach 14 Uhr und ich bin allein vorn an Deck. Dieser Ort ist für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Ich höre ein gleichmäßiges Rauschen und spüre die unglaubliche Energie, mit der sich das Containerschiff ruhig und kraftvoll durch die See schiebt. Salzige Luft weht mir ins Gesicht, Möwen folgen uns. In mir steigt ein Gefühl von Sehnsucht und Freiheit auf. Es riecht nach salziger Nordsee-Luft, nach Algen und Muscheln.
Mit der Kamera fest in der Hand, steige ich über armdickes Tauwerk, taste mich vorsichtig an der Reling entlang und riskiere einen Blick über den Bug des Schiffes. Ich schau gebannt hinunter auf die rostig-rote Schiffsnase, die eine große Bugwelle vor sich her schiebt.
Was für ein erhabener Moment. Erst jetzt blicke ich durch die Kamera und drücke auf den Auslöser, korrigiere Blende und Zeit. Immer wieder.

Zweite Offizierin

Zweite Offizierin – Blende: f/8

„Die würde ich rauswerfen, so kann man(n) nicht arbeiten!“
Wie bitte?? Ein Argument wie ein Kanonenschlag. So kommentierte ein Reeder mein Foto als ich 2018 im Hamburger Levantehaus ausstellte. Ich bin kein schlagfertiger Mensch und außer meiner empörten Frage „Warum das denn nicht?“ fiel mir so schnell keine Antwort ein. Später habe ich gedacht: „Man(n) nicht, aber diese junge Offizierin kann sehr professionell, kompetent und konzentriert arbeiten – auch mit pinkfarbenen Fingernägeln!“ Denn die lackierten Fingernägel waren es, an denen der Reeder Anstoß nahm.
Aber der Reihe nach:
Ich war auf einem Foto-Workshop unter Leitung eines dpa-Fotografen gemeinsam mit drei Kollegen. Wir waren die einzigen Gäste an Bord und fuhren mit dem Containerschiff KALAHARI von Rotterdam über London nach Bremerhaven. Tag und Nacht durften wir den Alltag auf dem Schiff mit der Kamera begleiten.
Um im Londoner Hafen anzulegen, mussten mehrere Schlepper am Containerschiff festmachen und es in den Hafen ziehen. Dieses Andocken, mit allem Drum und Dran, übernahm die 2. Offizierin. Die junge Frau war in ihre Arbeit vertieft und konzentrierte sich auf den Schlepper. Bei diesem Anlege-Manöver sind Handarbeit sowie technisches Können gefragt. Ich fotografierte den Schlepper, die armdicken Taue, den ganz normalen Alltag unter Deck. Mit der Kamera in der Hand, nickte ich der Offizierin kurz zu und versuchte, ohne zu stören oder im Weg zu stehen, ganz nah ran zu kommen.
Und dann gab es diese unerwartete Szene, in der sie ihre Arbeitshandschuhe auszog. Das war für mich der entscheidende Moment. Ich war hin und weg als ich ihre pinkfarbenen, leicht abgesplitterten Fingernägel sah und drückte nur noch auf den Auslöser. Das Foto ist keine inszenierte Szene, sondern ich war genau zum richtigen Augenblick am richtigen Ort.
Natürlich wechseln meine Lieblingsbilder, aber dieses Foto ist eines meiner Favoriten, weil es viel Raum für eine Geschichte und zum Nachdenken lässt. Und weil dieser konkrete Moment nicht vorhersehbar war.
„Die würde ich rauswerfen, so kann man(n) nicht arbeiten!“ Mit dieser Äußerung des Reeders, inspiriert mein Motiv auch, über Frauen in Männerberufen genauer nachzudenken. Was sagt das über unsere Gesellschaft aus, wenn wir Frauen im Beruf anhand von Äußerlichkeiten beurteilt werden – nicht anhand unserer fachlichen Qualifikation? Ist eine Frau mit pinkfarbenen Fingernägeln tatsächlich weniger qualifiziert, die Geschicke eines großen Schleppers zu lenken? Wohl kaum!